Gerade wenn ein Unternehmen erfolgreich ist - oder auch nur war - entsteht Selbstgefälligkeit. Doch wo Selbstgefälligkeit herrscht, verlaufen jegliche Veränderungsinitiativen und Anpassungsprozesse im Sande, auch wenn sie von außen betrachtet noch so drängend sind oder strategisch noch so notwendig erscheinen. Aus Unachtsamkeit verpassen selbstgefällige Menschen die besten Gelegenheiten und laufen blindlings in die größten Gefahren.
Die Aussage ist einfach: Nachhaltige Weiterentwicklung setzt „sense of urgency“ voraus! Doch weshalb wird dieser Erfolgsfaktor so häufig übergangen? In einigen Fällen unterschätzen Führungskräfte, wie schwierig es sein kann, die Leute aus ihrer Selbstgefälligkeit aufzuschrecken. Manchmal überschätzen sie gröblich, was sie schon in Richtung „sense of urgency“ erreicht haben. Mit ein paar kritischen Ansprachen ist noch nicht viel erreicht (Siehe Erfolgsfaktor 4). In anderen Fällen fehlt es an Geduld: "Genug mit den Vorbereitungen, jetzt muss es vorangehen". Vielfach zeigen sich Führungskräfte gelähmt von möglichen negativen Konsequenzen. Verbreitete, oft unbewusste Befürchtungen in Managementkreisen sind: Wenn ich meine Aufmerksamkeit verstärkt auf kritische Momente im Unternehmen lege, wenn ich dafür sorge, dass das Controlling, das Berichtswesen kritische Zahlen im Vergleich zum Wettbewerb liefert, wenn ich konsequent auf Schwachstellen in der Organisation oder im Managementverhalten meiner Mitarbeiter achte, dann …
- werden sich Vorgesetzte gegen mich stellen,
- werden sich altgediente Mitarbeiter sperren,
- wird die Arbeitsmoral sinken,
- werden die Ereignisse außer Kontrolle geraten,
- werden sich die Geschäftsresultate umgehend verschlechtern und
- werde ich womöglich noch beschuldigt, eine Krise erst heraufbeschworen zu haben.
Die Ursachen für Selbstgefälligkeit sind vielgestaltig.
Die Lähmung in der Unternehmensführung kommt häufig daher, dass es zu viele Manager und zu wenige Führungspersönlichkeiten gibt. Das Mandat des Managements erstreckt sich gewöhnlich auf das Minimieren von Risiken und die Bewahrung des gegebenen Systems. Eine Führungspersönlichkeit vermittelt Visionen, inspiriert und vermittelt Mut, neue Wege zu gehen. Gerade im Veränderungsmanagement ist die Wahrnehmung beider Rollen erforderlich. Nicht wenige Entwicklungsprozesse werden zwar recht passabel gemanagt, aber nicht selten wird die Wahrnehmung der Führungs-Funktion sträflich vernachlässigt.
Ein Manager erhält. | Ein Leader entwickelt. |
Ein Manager administriert. | Ein Leader gestaltet. |
Ein Manager akzeptiert Realitäten. | Ein Leader untersucht sie genauer. |
Ein Manager fragt wie und wann. | Ein Leader fragt was und warum. |
Ein Manager blickt stets auf das Resultat. | Ein Leader blickt auf den Horizont. |
Ein Manager orientiert sich kurzfristig. | Ein Leader hat eine Perspektive. |
Ein Manager konzentriert sich auf Menschen. | Ein Leader konzentriert sich auf Systeme und Strukturen. |
Ein Manager vertraut auf Kontrolle. | Ein Leader inspiriert durch Vertrauen. |
Ein Manager ist ein guter Verwalter. | Ein Leader ist ein Unternehmer. |
Ein Manager macht alle Dinge richtig. | Ein Leader macht die richtigen Dinge. |
Oder mit anderen Worten:
Schlechte Geschäftsergebnisse sind in der ersten Phase Segen und Fluch zugleich: Positiv an ihnen ist, dass Geld zu verlieren, die Leute aufschreckt; andererseits engen Verluste den Handlungsspielraum ein. Bei guten Resultaten trifft das Gegenteil zu: Es fällt dann erheblich schwerer, die Menschen von der Notwendigkeit eines Wandels zu überzeugen; dafür stehen aber größere Ressourcen zur Verfügung. Doch ob am Ausgangspunkt nun eine gute oder schlechte Unternehmensleistung steht, in den erfolgreichen Veränderungsprojekten, ist es stets ein Einzelner oder eine Gruppe, der/die eine offene Diskussion von potentiell unangenehmen Tatsachen herbeiführt: über neue Mitbewerber, schrumpfende Margen, rückläufige Marktanteile, dürftige Erträge, fehlendes Umsatzwachstum oder andere Indikatoren einer sich verschlechternden Wettbewerbsposition.
Zu Beginn des Veränderungsprojekts: Wege aus der Selbstgefälligkeit!
Wie schon erwähnt sind die Gründe für Selbstgefälligkeit vielgestaltig - und die Wege heraus ebenso. Als Appell formuliert, sieht die abzuarbeitende Checkliste wie folgt aus:
- Erzeugen Sie eine wahrnehmbare Krise! (Finanzielle Verluste ausweisen; Dem Management offensichtliche Schwächen im direkten Wettbewerbsvergleich aufzeigen; Fehler eskalieren lassen anstatt sie in letzter Minute noch korrigieren)
- Schaffen Sie Symbole des „Reichtums“ ab! (z.B. Exklusiver Essenraum für Manager oder exklusive Büroausstattung)
- Setzen Sie die Ziel-Kennzahlen so hoch, dass diese nicht mit „business as usual“ erreicht werden können! (Ergebnis, Umsatz, Produktivität, Kundenzufriedenheit, Durchlaufzeiten usw.)
- Stoppen Sie das Bewerten abteilungsbezogener Leistung, basierend auf engen funktionalen Zielen!
- Stattdessen: Bestehen Sie darauf, dass mehr Mitarbeiter verantwortlich sind für Kennzahlen der Gesamtleistung des Unternehmens!
- Senden Sie mehr Informationen bezüglich Kundenzufriedenheit und finanzieller Leistungsfähigkeit an mehr Mitarbeiter - besonders Informationen, welche die eigene Schwäche gegenüber direkten Konkurrenten zeigt!
- Bestehen Sie darauf, dass Mitarbeiter regelmäßig mit unzufriedenen Kunden, unzufriedenen Zulieferern oder enttäuschten „shareholder“ reden!
- Benutzen Sie externe Untersuchungen, um mehr kritische Daten und ehrliche Diskussionen in Management-Meetings zu haben!
- Stellen Sie sicher, dass ehrliche Diskussionen über die Probleme der Organisation in Firmenzeitschriften und in Management-Ansprachen auftauchen. Stoppen Sie „happy talk“ des Top-Managements!
- Zeigen Sie den Mitarbeitern zukünftige Geschäftschancen und mögliche Gewinne auf, wenn diese Chancen erschlossen werden – und: Machen Sie dabei die aktuelle Unfähigkeit der Organisation deutlich, diese Geschäftschancen zu erschließen!
Eine nach innen gerichtete Organisation verpasst zwangsläufig gute Chancen und läuft Gefahr, für den Unternehmenserfolg relevante Entwicklungen von Wettbewerbern, Kunden oder im regulatorischen Umfeld zu übersehen. Mitarbeiter mit direktem Kundenkontakt sollten es als Teil ihrer Aufgabe verstehen, Informationen über den Markt und den Kunden systematisch zu sammeln. Erfolgreiche Unternehmer belassen es nicht nur bei der systematischen Datensammlung, von entwicklungsrelevanten Informationen. Erfolgreiche Unternehmer laden diese Mitarbeiter persönlich ein, um aus erster Hand etwas über die Kunden und deren Reaktion auf die Produkte oder Dienstleistungen zu erfahren. Sie hören aufmerksam zu und suchen nach Mustern. Sie ermutigen andere Führungskräfte – gerade auch aus internen Abteilungen -, dasselbe zu tun. Sie fördern oder verlangen, dass Führungskräfte mit Kundennähe die systematische Sammlung und Aufbereitung solcher Informationen als essentieller Bestandteil ihrer Arbeit verstehen. Der Vertrieb wird als Schnittstelle zum Markt verstanden, wo in die eine Richtung Wertschöpfung an den Kunden gebracht wird und in die andere Richtung entwicklungsrelevante Informationen vom Markt in das Unternehmen geliefert werden. Erfolgreiche Manager legen einen hohen Wert darauf, dass …
- Mitarbeiter mit direktem Kundenkontakt motiviert sind, eine Quelle für nützliche Kundeninformationen zu sein, selbst wenn in der Vergangenheit das Gegenteil gelebt wurde,
- diese Mitarbeiter eine angemessene Behandlung erfahren bzw. angemessenes Gehör in dem Unternehmen finden. Kein Mensch ist gewillt Entwicklungsdruck durch das Liefern von kritischen Daten aufzubauen, wenn man ihn ohne Respekt und Wertschätzung behandelt. Hier zählt die Handlung, nicht das gesprochene Wort.
- genau und aktiv zugehört wird und nicht gleich aufgegeben wird, wenn die Mitarbeiter nicht sofort antworten.
Dabei geht es nicht darum, diffuse Angst zu erzeugen, sondern das Unternehmen entwicklungsfähig, d.h. lebensfähig zu halten. Mit Überzeugung und einiger Raffinesse, können Führungspersönlichkeiten mit diesem Thema umgehen. Die Lösung beginnt an der Spitze:
- Top-Management sieht die Chancen und nicht nur die Probleme.
- Führungskräfte sehen deutlich das Ziel, Selbstgefälligkeit in zielorientierte Selbstreflexion und kundenorientiertes Handeln zu verwandeln und nicht eine Welle richtungsloser, diffuser Angst auszulösen, die als Dringlichkeit missverstanden wird.
- Sie geben so viel von den beunruhigenden Informationen an so viele Mitarbeiter, wie es praktikabel ist.
- Sie machen deutlich, dass die externen Daten, die existentielle Chance bietet, das Handeln anzustoßen, welches notwendig ist, um die Organisation nachhaltig zu stärken.
- Sie machen deutlich, in Wort und Tat, dass ein „Schwarze-Peter-Spiel“ auf keinen Fall toleriert wird. Sie machen deutlich, dass eine erfolgreiche Zukunft das Thema ist.
- Das Top-Management handelt mit Selbstvertrauen und wenig sichtbarer Angst, Wut oder Arroganz.
- Sie versuchen zu antizipieren, wer auf welche Weise reagieren wird. Für Gruppen, die geneigt sind, mit Angst oder Wut zu reagieren, zeigt das Top-Management sichtbares Selbstvertrauen und eine eiserne Entschlossenheit, die Angst und Wut zu kanalisieren in eine Energie zum Handeln und zum Gewinnen.
Verwenden Sie die Macht der Bilder!
Eine Beobachtung, welche immer und immer wieder gemacht werden kann, ist die Macht der Bilder. Wenn die Bilder ehrlich und anschlussfähig sind, wenn sie sich augenfällig mit der Leitungsfähigkeit der Mitarbeiter oder der Organisation befassen, dann sind Bilder stärker als ein persönliches Statement. Zeigen Sie ihren Mitarbeitern Bilder, sagen sie es nicht (nur)! Führungskräfte sind es gewohnt, den Mitarbeitern Fakten zu erklären und zwar so logisch wie nur möglich. Aber es gibt noch eine andere Methode und zwar eine, die zweifelsohne stärker wirkt. Lassen sie die Mitarbeiter die Dringlichkeit für die Veränderung mit ihren eigenen Augen sehen. Zeigen sie z.B. Videos mit (potenziellen) Kunden, welche ihren Unmut bzw. ihre Bedürfnisse athenisch artikulieren. Zeigen sie nicht nur durch aggregierte und abstrakte Zahlen, dass etwas getan werden muss. Letzteres spricht die Vernunft an. Die Wirkung von Emotionen auf das Verhalten ist um etliches größer.
Man kann den Einsatz von Videos als „sense of urgency“-Mechanismus einführen. Diese Aufgabe kann als einen Teil der Arbeit einer „Abteilung Kommunikation“ installiert werden: Das Suchen und das Aufnehmen und das Verbreiten wirkungsvoller Videos in regelmäßigen Abständen. Die Aufgabe kann schwierig sein, aber sie geht nicht über die Fähigkeiten einer kompetenten Kommunikationsgruppe hinaus.
Schicken Sie Mitarbeiter raus! – Das „scout“-Konzept.
Die Idee ist einfach. Sie schicken „Scouts" zu relevanten Kunden, um Informationen zu bekommen und nutzen u.a. diese Maßnahme, um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren, dass sie konsequente Kundenorientierung erwarten. „Scouts“ sind keine Kundenbefragungen mit Kundenzufriedenheitsfragebögen etc. – „Scouts“ sind Mitarbeiter, welche direkt mit den Kunden ins Gespräch gehen, um Auskünfte über Bedürfnisse, Tendenz, Vorlieben oder neue Entwicklungen aus erster Hand zu bekommen. Im direkten Kontakt können Fragen spontan gefragt werden.
Feedback kommt nicht nur von den Worten – Feedback ist auch, wie der Besucher behandelt wird bzw. was die gesamte nonverbale Kommunikation sagt. Die gesamte Erfahrung ist wichtig. Die Mitarbeiter bringen üblicherweise Informationen und Gefühle zu ihren Vorgesetzten und Kollegen zurück: Bei bedacht gewählten Besuchen nicht selten ein Gefühl der Dringlichkeit für Verbesserung.
Das „scout“-Konzept sollte nicht nur auf externe Kunden angewandt werden. Produkte werden in Wertschöpfungsketten erzeugt. Und in Wertschöpfungsketten gibt es zwangsläufig Kunden-Lieferantenbeziehungen. Weshalb sollte die Kundenorientierung erst an der Unternehmensgrenze anfangen? Dringlichkeit zur Veränderung kann gesteigert werden, indem Mitarbeiter angehalten werden, vorurteilsfrei zu den relevanten internen Kunden zu gehen, um deren Wahrnehmung von der eigenen Leistungsfähigkeit zu erkunden. Mitarbeiter erfahren dadurch, was außerhalb ihrer „abgeschotteten“ Abteilungsgrenzen vor sich geht und bringen immer etwas von dem zurück, was sie erlebt haben. Eindrücke, welche in dieser Art und Weise gesammelt wurden, werden mit anderen geteilt. Die Eindrücke werden nicht als sterile Tatsachen verbreitet, sondern als Geschichten mit Erregung oder Betroffenheit.
Wann ist das Gefühl für Dringlichkeit aber groß genug? Das Gefühl ist dann groß genug, wenn ungefähr 75 Prozent der einflussreichen Manager in einem Unternehmen aufrichtig davon überzeugt sind, dass es mit der Devise business as usual einfach nicht mehr weitergeht. Liegt der Anteil darunter, muss im Entwicklungsprozess später mit sehr schwerwiegenden Problemen gerechnet werden.
In Anlehnung an: John P. Kotter (1996) Leading Change. Harvard Business Press. Und: In Anlehnung an: John P. Kotter (2008) A Sense of Urgency. Harvard Business Press.
Siehe auch: Interview mit J.P. Kotter zum Thema (In Englisch): www.youtube.com/watch?v=U5802FBaMS